Auszug aus der Laudatio:
„Sind Hundstage voll Sonnenschein, wird das Jahr recht fruchtbar sein.“ Sirius als Hauptstern des Sternbildes „Großer Hund“ – daher der Name „Hundstage“ – ging vor Jahrtausenden Ende Juli auf, wurde im alten Ägypten als der Stern angesehen, der die fruchtbare Nil-schwemme einläutete, während in Mesopotamien, dem heutigen Irak, die sommerliche Dürre folgte. Heute weiß man, dass Sirius keinen Ein-fluss auf das Wetter hat, wie ihm fälschlicherweise zugeschrieben wur-de und dass sich sein Aufgehen immer weiter verschiebt, in Deutsch-land zur Zeit Ende August zum Herbstbeginn, und in ca. 10000 Jahren wird er erst im Winter aufgehen. Trotzdem ist die Zeit der Hundstage, der heißesten Zeit im Jahr, festgelegt auf den 23.7 bis 23. 8.
Welche Hundstage hat uns Tanj Vetter bereitet? Werden wir anhand ihrer Gemälde, die vergangenen heißen Tage dieses Jahres vor unserem geistigen Auge Revue passieren lassen? Denken wir doch zurück an die extreme Trockenheit des letzten Jahres, wo sich die Rheinstrände extrem ausgebreitet hatten, was viele Bürger dazu veranlasste, einen Spaziergang bis in die Mitte des normalen Fluss-bettes zu unternehmen!
Erde und Wasser, Strand und Meer, das sind die hauptsächlichen Elemente, die die Künstlerin uns in dieser Ausstellung gegenüberstellt:
Man könnte sich an den letzten Urlaub zurückerinnern, das Meeres-rauschen, das Plantschen und Jauchzen der Kinder, Sand und Salz auf der Haut. Idylle und Paradies.
Kennen wir diese Sichtweisen nicht aus unzähligen Ansichtskarten der Strände rund um den Globus?
Zum Gegensatz Wasser und Land – kalt und warm – kommt der Kontrast oben und unten hinzu: Das Geschehen wird meist aus der Vogelperspektive beobachtet. Der Mensch in diesen Landschaften wird zum Spielzeugfigürchen degradiert, wie kleine Zinnsoldaten: allein, zu zweit, in kleinen Gruppen. Diese Menschlein baden im Meer, liegen am Strand, entspannen sich, machen einen Spaziergang, gehen keiner Arbeit nach, scheinen die „Hundstage“ zu genießen. In der Weite der Landschaft, in dem der Einzelne, das Paar oder die kleine Gruppe wie aufgestellt wirken – sehen wir auch die Vereinzelung, das Verloren-Sein in der Weite.
Auch bei den Gemälden, wo die Sichtweise in die sogenannte „Froschperspektive“ wechselt, wird der Mensch aus der Distanz betrachtet. Als farbiges Figürchen oder als Schattenfigur bevölkert er eine fast gegenstandslose Farben-Landschaft.
Der Mensch, mal etwas näher gerückt, meist weit entfernt, mal Schattenfigur, mal Farbtupfer: Das Agieren, die Verhaltensweisen, beschränken sich immer auf das gleiche Grundmuster: Liegen, stehen, gehen, Schlag-Schatten werfend, und das in einem grenzenlosen Landschaftsraum.
So ruhig, wie die Verhaltensweisen der Menschen erscheinen, so wuchtig ist manches Mal die Farbgebung: Über den expressiven Pinselduktus, erfahren die „Lazy Days“ eine ungeheuer dramatische Note. Auffällig dabei der Licht-Schatten- bzw. Hell-Dunkel-Kontrast, die oft komplementäre, gegensätzliche Farbigkeit. So stehen der Pastellfarbgebung elementare Grundfarben gegenüber: Blau, Gelb, Rot. Ein Kampf der Urgewalten.
Das Menschlein, das in seiner Ahnungslosigkeit diese Landschaft bevölkert, scheint hier Ruhepol zu sein, das Spielfigürchen, der Statist, in der Konvention seiner Verhaltensweisen festgelegt – und doch ist jeder Einzelne als Individuum ausgeführt, bringt seine eigene Lebensgeschichte mit. Dies wird deutlich in der teilwiese minuziösen Ausführung der Figuren, nur erkennbar, wenn Sie ganz nah an die Bilder dran gehen, sozusagen in die Bilder „eintauchen“.
Die Landschaft aber, die Ur-Elemente selbst führen ihr expressives Eigenleben.
Wir erinnern uns an Caspar David Friedrichs Gemälde: „Der Mönch am Meer“. Hier steht der einsame, kleine Mensch in seiner Kontemplation vor der Urgewalt und grenzenlosen Weite der Natur und des Weltalls, das er kaum zu begreifen vermag. Wozu ein Kritiker äußerte: „Es ist, als seien einem die Lider weggeschnitten.“ Damit meinte er den „grenzenlosen Blick“, das Nicht-Eingeschränkte in der Komposition, die Offenheit, die dem Betrachter das Sehen in die Unendlichkeit ermöglicht – oder, realistisch ausgedrückt: Durch das Nicht-Begrenzt-Sein durch kompositorische Gegebenheiten, wird die Konvention des Sehens übersprungen, wird Weiterdenken ermöglicht.
So sagt Tanja Vetter selbst zu ihren Gemälden: „Ich gebe nur einen Impuls – der Betrachter soll seine eigene Geschichte weiterspinnen.“
In diesem Sinne gebe ich ihnen, liebe Gäste, den Impuls weiter, indem ich arabische Astronomen zitiere, die die in der flirrenden Sommerhitze häufig erscheinende „Fata Morgana“ als „vom Himmel tropfender Speichel des Hundssterns“ bezeichneten. Oder, wie hierzulande eine alte Bauernregel sagt: „Heiße Hundstage prophezeien einen kalten Winter.“
Reinhard Ader, Nov. 2019